Sonderfall: chronische Schmerzen.

Was ich in früheren Beiträgen über Rückenschmerzen beschrieben habe, mag einfach erscheinen.

Allerdings wird es komplizierter, wenn es sich um chronische Schmerzen handelt, also um Schmerzen, die länger als 3 Monate anhalten.

Lass mich dir ein Beispiel geben. Stell dir vor, du hast dir den Knöchel verstaucht. Es ist ganz normal, dass du zunächst eine Schwellung hast und wahrscheinlich humpelst, aber du gehst davon aus, dass die Verletzung nach 1 bis 2 Wochen verheilt und das Gehen keine Schmerzen verursacht.

 In manchen Fällen ist es genau umgekehrt: Die Schmerzen hören nicht auf und werden mit der Zeit sogar noch schlimmer. Die Schmerzreaktion entspricht nicht dem Zustand des Gewebes, das mit der Zeit doch eigentlich heilen sollte.

Zwei Begriffe, von denen du wahrscheinlich noch nie gehört hast, nämlich periphere und zentrale Sensibilisierung, können für dieses Phänomen verantwortlich sein.

Vielleicht liegt es daran, dass sie schwieriger zu verkaufen sind als eine Massagepistole, eine neue Matratze, ein Faszienrolle und so weiter.

Aus meiner Sicht sind das wichtige Begriffe, wenn deine Schmerzen “ therapieresistent“ erscheinen.

Aber zunächst ein Aspekt, damit du verstehst, wie wichtig die Nerven bei der Gewebeheilung sind.

 

Nerven initiieren Entzündungen.

Stell dir vor, du bist auf dein Knie gefallen.

Es ist wahrscheinlich, dass das Gewebe ein wenig gestaucht wurde, so dass es als Folge der Verletzung zu einer Entzündung kommen wird.

Aber was löst die Entzündung aus? 

Die Nervenenden, die durch die Verletzung gereizt wurden, schütten Substanzen namens Neuropeptide in das Gewebe aus. 

Sie bewirken, dass sich die Blutgefäße weiten und ihre Durchlässigkeit erhöhen. Dadurch gelangt mehr Blutplasma in das Gewebe und führt zu einer Schwellung.

Zusammen mit dem Blutplasma werden sogenannte Entzündungsmediatoren freigesetzt, die, wie der Name schon sagt, die Entzündung auslösen.

Periphere Sensibilisierung

Durch die Entzündung werden die Nervenenden sensibilisiert, d.h. ihre Erregbarkeit steigt und ihre Reizschwelle sinkt. Das bedeutet, dass das Signal, das an das Gehirn gesendet wird, intensiver und mit weniger Stimuli erfolgt.

Ein Beispiel dafür wäre eine frische Gelenkverstauchung, bei der schon leichte Bewegungen starke Schmerzen verursachen. Das ist ein normaler Zustand, der uns motivieren soll, ein bestimmtes Körperteil zu entlasten.

Es kann aber auch zu einer Pathologie kommen.

Wenn die Entzündungsmediatoren sehr intensiv oder über einen längeren Zeitraum auf die Nervenenden einwirken, kann es zu einer Reihe von Veränderungen kommen, auch in ihrem Stoffwechsel und ihrer Struktur, so dass sie schneller und stärker auf Reize reagieren.

Was sind die Merkmale der peripheren Sensibilisierung?

Allodynie – harmlose Reize, wie z. B. eine sanfte Berührung, verursachen Schmerzen.

Hyperalgesie – verstärkte Reaktion auf schmerzhafte Reize, d.h. Druck, der leichte Schmerzen verursachen würde, erzeugt starke Schmerzen.

Die Nervenenden sind dann überempfindlich u. a. gegen mechanische Reize, z. B. durch Kontraktion oder Dehnung des Muskels, aber auch gegen thermische Reize, sowie gegen chemische Reize, z. B. die Übersäuerung des Gewebes aufgrund einer verminderten Blutzufuhr, die zu einem Anstieg der Protonenkonzentration (H+) führt.

In diesem Zustand zielt meine Physiotherapie darauf ab, die Schwellung im Gewebe zu verringern und die Entzündung zu reduzieren, damit die Nervenenden nicht weiter gereizt werden.

Du als Patientin oder Patient musst darauf achten, dass du das betroffene Gewebe nicht überlastest, da dies den Heilungsprozess beeinträchtigen kann.


Letzteres ist besonders wichtig, da lang anhaltende Schmerzen auch zu einer zentralen Sensibilisierung führen können.

Zentrale Sensibilisierung

Für jemanden, der sich nicht für Neuroanatomie interessiert, mag es so aussehen, als ob die Informationen des sensorischen Nervs unverändert durch das Rückenmark zum Gehirn gelangen.

Die Realität ist komplizierter und auf dem Weg zur Großhirnrinde hat das Signal Umschaltstationen z. B. im Hinterhorn des Rückenmarks.

Dort kann das Signal sowohl verstärkt als auch gehemmt werden.

Dabei handelt es sich um den Spalt, der die Sender- und die Empfängerzelle voneinander trennt. Bei hochfrequenten oder lang andauernden Impulseinstrom von Schmerzreizen wird unter anderem eine Substanz namens Glutamat vermehrt freigesetzt, die durch eine Reihe von Prozessen zu strukturellen Veränderungen führt und die Zelle empfindlicher für äußere Reize macht.

Es ist nichts Besonderes, dass Neuronen im zentralen Nervensystem ihre Erregbarkeit erhöhen, wenn sie häufig benutzt werden.

Wir wissen, wenn wir etwas gut lernen wollen, müssen wir es wiederholen. 

Unter diesem Gesichtspunkt werden chronische Schmerzen als ein ungewollter Lernprozess betrachtet.

Merkmale der zentralen Sensibilisierung.

Während das Merkmal der peripheren Sensibilisierung der Schmerz als Reaktion auf Bewegung ist, treten bei der zentralen Sensibilisierung auch spontane Schmerzen auf, die sich über Wochen ausbreiten können.

Auch eine Muskelschwäche wird beobachtet.

Die Druckempfindlichkeit bei der Untersuchung erstreckt sich über einen deutlich größeren Bereich als den, der ursprünglich von der Verletzung oder Überlastung betroffen war.

Beispiel: „Mateusz, ich kann dir nicht sagen, was die Schmerzen triggert, denn zum Beispiel an einem Tag putze ich die Wohnung und es passiert nichts, und eine Woche später mache ich dasselbe und kann ich mich vor Schmerzen kaum bewegen.

In so einem Fall reicht es nicht, nur an die mechanischen Belastungen zu denken, sondern man muss auch die psychischen Belastungen in die Gleichung einzubeziehen.

Stress im weitesten Sinne, zu viele Aufgaben für die benötigte Zeit, Unzufriedenheit bei der Arbeit, Mobbing durch den Chef, Emotionen wie Angst, Scham, Wut.

Kann die Physiotherapie helfen?

Die Fachliteratur empfiehlt eine Behandlung mit Medikamenten, die auf das zentrale Nervensystem wirken, und eine Psychotherapie.

Meine Beobachtung ist, dass man bei einer zentralen Sensibilisierung noch mehr darauf achten muss, Maßnahmen wie Massagen oder Bewegung optimal zu dosieren, damit sie langfristig helfen und den Zustand nicht verschlimmern.

Mir ist aufgefallen, dass Methoden zur Regulierung von Stress und „unverdauten“ Emotionen ebenfalls helfen.

Fazit: Wenn Physiotherapie oder ein Übungsprogramm dir nicht geholfen haben, ist das noch nicht das Ende der Reise und es gibt immer noch eine Reihe von Maßnahmen, die du ausprobieren kannst.

Quelle: Siegfried Mense: Muskeln, Faszien und Schmerz (2021), Wissenschaftliche Grundlagen zu Funktion, Dysfunktion und Schmerzen